Die Musik lebt, das System ist überfordert

Die Idee des Films «Mann ohne Gedächtnis» war bereits 1984 nicht neu. Der Protagonist hat sein Gedächtnis verloren. Er selber oder sein Umfeld versuchen langsam und stetig die Erinnerung wieder zu erlangen. Dieses Thema findet sich in vielen Filmen. Erwähnt an dieser Stelle sei L’uomo senza memoria (1974) von Duccio Tessari sowie Der Mann ohne Vergangenheit (2002) von Aki Kaurismäki.
Bei Esquire.de werden zehn Filme angeführt, die allesamt eine ähnliche Thematik beinhalten. Im Internet fand ich weiter die Frau ohne Gedächtnis, die in der japanischen Serie Tokio-Flughafenpolizei zwischen 1978 und 1980 im DDR-Fernsehen lief. Eines lässt sich daraus ableiten, Männer scheinen in der Filmwelt eher das Gedächtnis zu verlieren.
Der Film von Kurt Gloor aus dem Jahre 1984 ist aber insofern anders bzw. einzigartig, als der Protagonist (Michael König) die Sprache verloren hat. Im gesamten Film spricht er kein Wort und damit ist primär das Umfeld überfordert.
Zu Beginn des Films wird der Mann ohne Gedächtnis auf einem, genau genommen dem Rastplatz in Kemptthal aufgegriffen. Die Polizei versucht seine Identität (nicht immer ganz nett) zu ergründen, scheitert aber.
Schliesslich erfolgt die Einweisung in die psychiatrische Klinik. Gemäss Kurt Gloor sollte es ein Film werden, welcher die moderne Psychiatrie kritisch hinterfrage. Dem ist zweifelsfrei so, aber die Kernaussage des Films blickt tief, vielleicht gar zu tief, in die Abgründe der Pharma-Industrie hinein.

Letztlich dürfte es wohl diese Kernaussage sein, dass der Film, obwohl er 1984 an der Berlinale mit dem Preis der Internationalen Katholischen Organisation für Kino (OCIC) ausgezeichnet wurde, faktisch komplett von der Bildfläche verschwand.

Neben dem Hauptdarsteller Michael König überzeugt das gesamte Esemble. Lisi Mangold (leider viel zu früh an Krebs verstorben) spielt die Pflegefachperson, welche im guten Widerspruch zu vielen anderen Protagonisten für Humanität in der (damals) modernen Psychiatrie eintrat. Weitere bekannte Gesichter finden sich in der Besetzung, und weil es doch einige Namen sind, hier die Liste der Schauspieler/innen:
Michael König; Lisi Mangold; Hannelore Elsner; Siegfried Kernen; Esther Christinat; László I. Kish; Ursula Andermatt; Guido Bachmann; Rudolf Bissegger; Uli Eichenberger; Tina Engel; Hans Gaugler; Margot Gödrös; Monika Koch; Fritz Lichtenhahn; Bettina Lindtberg; Andreas Löffel; Hanspeter Müller
Besonders zu erwähnen ist die Filmmusik, die von Lucio Dalla stammt und bereits beim Vorspann eine langweilige Autofahrtszene mit sehr viel Atmosphäre belegt und später mit wuchtiger Präsenz immer wieder einen guten Kontrapunkt setzt, denn die fetzige Musik vermittelt Leben, wo ansonsten wenig ist.
Der Film Mann ohne Gedächtnis sollte der letzte Spielfilm von Kurt Gloor bleiben. Zwar sind bis 1996 noch weitere bis heute sehenswerte Dok-Filme entstanden, doch für das Kino konnte/wollte er keine Filme mehr realisieren. Wir wissen von Kurt Gloor einzig, dass er später über Jahre an Depressionen litt, ehe er 1997 mit Suizid aus dem Leben schied.
In diesem Sinne bleibt es bei diesem Beitrag bei einem traurigen Ende. Dem müsste nicht sein, denn der Film Mann ohne Gedächtnis verdiente es längst, seit vielen Jahren, wieder einmal öffentlich aufgeführt zu werden. Daher bleibt die Hoffnung, dass dieser Beitrag ein klein wenig dazu beiträgt, dass der Film Mann ohne Gedächtnis im Gedächtnis des Schweizer Filmschaffens nicht gänzlich aus dem Gedächtnis verschwindet.
P.S II. Die Bilder in diesem Beitrag entstammen dem Filme ‹Mann ohne Gedächtnis›. Sie werden hier im Sinne des Zitierungsrechtes verwendet. Eine anderweitige Verwendung ist ausgeschlossen. In diesem Sinne dürfen die Bilder auch nicht ab dieser Homepage kopiert werden.